Die Dekarbonisierung der Schweizer Energieversorgung ist im vollen Gang. Jetzt geht es darum, die nächsten Schritte zu tun.
Wer sie selbst erlebt hat, wird sie nie vergessen und wer zu jung dafür ist, kennt sie aus Erzählungen: die drei autofreien Sonntage Anfang der 70iger Jahre. Auslöser war der sprunghafte Anstieg der Rohölpreise.
Das Schweizer Energieversorgungssystem reagierte umgehend auf den so genannten Ölpreisschock: Der Heizölimport, bis dahin konstant steigend, begann zu sinken. Ausserdem entkoppelte sich das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) vom Primärenergiekonsum. Der Pro-Kopf-Verbrauch liegt heute auf dem Niveau von vor 50 Jahren, während sich das BIP in dieser Zeit mehr als verdoppelt hat.
Seit sieben Jahren ist die Schweizer Energieversorgung nun erneut mit einer Neuausrichtung der Rahmenbedingungen konfrontiert: 2017 nahm das Stimmvolk die Energiestrategie 2050 an. In der Folge verkündete der Bundesrat, dass er bis Mitte des Jahrhunderts das «Netto-Null»-Ziel anstrebe: Private und Industrie sollen nicht mehr CO2 emittieren, als sie der Atmosphäre wieder entziehen.
Alternativen zu Gas und Öl
Das Volk bestätigte den eingeschlagenen Kurs zweimal: Am 18. Juni 2023 nahm es das Klima- und Innovationsgesetz an und ein Jahr später das Stromversorgungsgesetz, das am 1. Januar 2025 in Kraft treten wird. Seither ist klar: Die Antriebs- und Heizleistungen, die heute mit Gas und Öl erbracht werden, müssen bis in 25 Jahren mit anderen Energieträgern erzielt werden.
Wie das gehen kann, wie die angestrebte Dekarbonisierung konkret umgesetzt wird, ist Gegenstand von intensiven Debatten in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Die am 16. Februar dieses Jahres eingereichte «Blackout-Initiative» verlangt zum Beispiel, dass die Schweiz auch die Option Kernkraft wieder prüft. Der Bundesrat reagierte und schlug im August vor, das Planungsverbot für Atomkraftwerke aufzuheben (siehe dazu das untenstehende Interview).
Netto-Null ohne Kernkraft
Für Peter Morf, den Leiter des Schwerpunktes Energietechnologien und Ressourceneffizienz am Hightech Zentrum Aargau kommt dieser Schritt zu früh. Er ist überzeugt: «Stand heute können wir die Netto-Null auch ohne Kernkraft schaffen». Morf verweist auf den wachsenden Zubau von Photovoltaik; ein globaler Megatrend, der auch in der Schweiz wirksam ist (siehe Graphik). Die Sonnenenergie, so Morf, trage bereits rund 10 Prozent zum Schweizer Energiemix bei – Tendenz stark steigend.
Ähnlicher Meinung ist Christian Schaffner, Direktor des Energy Science Center (ESC) der ETH Zürich. «Die Dekarbonisierung mit erneuerbaren Energien ist schwierig, aber machbar», erklärte er am Energie-Anlass 2024 des Hightech Zentrum Aargau.
Schaffner widerspricht insbesondere der weitverbreiteten These, dass die Schweiz bei der Fortführung der Energiestrategie 2050 mittelfristig mit einer Winterstromlücke konfrontiert sein werde. Die Modelle des ESC zeigen, dass sich die saisonalen Mindererträge aus heimischen Photovoltaik-Anlagen (PV) mit dem überschüssigen Windstrom aus Nord- und Westeuropa kompensieren lassen. Langfristig, so Schaffner an der Veranstaltung in Brugg, gehöre die Schweiz voraussichtlich zu den Nutzniessern einer Dekarbonisierung der europäischen Stromversorgung: «Der Regelstrom aus unseren alpinen Speicher- und Pumpspeicherkraftwerken wird extrem gefragt sein».
Wenn die Energiewende gelingen soll, müssen gemäss Stromversorgungsgesetz über die nächsten 25 Jahre PV-Anlagen mit einer Leistung von 45 Gigawatt installiert werden. Skeptiker bezweifeln, dass unser Stromnetz solche Mengen aufnehmen kann und befürchten einen immensen Investitionsbedarf.
Entlastung der Stromnetze
Die Elektrizitätsversorgungsunternehmen (EVU) beschäftigen sich schon länger mit der zunehmenden Solarstromeinspeisung. Bei der SWL in Lenzburg, ist Lars Huber, Leiter Systemtechnik mit dem Thema befasst. Seine Berechnungen zeigen, dass sich der Überlastung der Netze mit zwei Massnahmen wirksam begegnen lässt: erstens mit automatisierten Einspeisebegrenzungen an heissen Sommertagen, zweitens mit der intelligenten Ausregelung der Verteilnetze durch so genannte «Smart Grids».
Das Stromversorgungsgesetz sieht dafür unter anderem die Einrichtung von lokalen Elektrizitätsgemeinschaften (LEG) und virtuellen Zusammenschlüssen zum Eigenverbrauch (ZEV) vor. Beides entlastet die höchsten Netzebenen, weil lokal produzierter Strom auch lokal verbraucht werden kann. Lars Huber ist überzeugt: Das Schweizer Stromnetz kann den in der Energiestrategie 2050 vorgesehenen Zubau von PV-Anlagen auch ohne neue Höchstspannungstrassen verkraften.
Regelenergie aus Autobatterien
Noch offen ist die Frage nach der Verfügbarkeit des erzeugten Solar- und Windstroms in den Morgen- und Abendstunden. Es braucht Technologien, die sicherstellen, dass der Strom auch zu den Spitzenverbrauchszeiten zuverlässig fliesst. Denkbar sei einiges, sagt Energieexperte Peter Morf vom Hightech Zentrum Aargau. Er geht jedoch davon aus, dass das bidirektionale Laden von Autobatterien eine Schlüsselrolle spielen wird.
Besitzer von E-Mobilen werden künftig Geld erhalten, wenn sie den EVUs ihre Batterien als Energiespeicher zu Verfügung stellen. Ein erst kürzlich abgeschlossener Pilotversuche mit 50 Mobility-Fahrzeugen zeigte, dass dieses Modell schon bei den aktuellen Regelstrompreisen lukrativ sein kann.
Privatwagen und Firmenflotten werden zu integralen Bestandteilen des Stromnetzes. Die dafür nötigen Technologien sind vorhanden. Es ist jetzt an der Fahrzeugindustrie, stromnetzfähige Modelle auf den Markt zu bringen; zum Beispiel Personen- und Lastwagen, die sich induktiv, das heisst kabellos, laden lassen.
Die politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz seien günstig, sagt Energieexperte Morf: «Mit dem Klima- und Innovationsgesetz einerseits und dem Stromversorgungsgesetz andererseits sind wichtige Weichen gestellt».
Interview
«535 alpine Solarkraftwerke»
Annalisa Manera, Professorin am Nuclear Systems and Multiphase Flows Laboratory der ETH Zürich, begrüsst den Vorschlag des Bundesrates, das Planungsverbot für AKW aufzuheben.
Der bundesrätliche Gegenvorschlag zur Blackout-Initiative ist hoch umstritten. Was spricht ihrer Meinung nach dafür?
Heute verfügt die Schweiz über einen der saubersten Strommixe Europas, mit 55 Prozent Wasserkraft und 35 Prozent Kernkraft. Atomkraft a priori als Teil des zukünftigen Schweizer Energiemixes auszuschliessen, macht unsere Herausforderung noch schwieriger. Neben der Schweiz gibt es nur drei weitere Staaten, die sich aus der Kernenergie verabschieden wollen. In mehr als 30 Ländern werden heute KKW geplant oder gebaut.
Die Energiestrategie 2050 geht davon aus, dass sich die Energieversorgung auch ohne Atomkraft dekarbonisieren lässt.
Man sollte sehen, was es bedeutet, wenn die Schweiz Netto-Null nur mit erneuerbaren Energien erreichen will. In Finnland wurde 2023 der dritte Block des Kernkraftwerkes Olkiluoto in Betrieb genommen. Er liefert so viel Strom wie 535 alpine Solarkraftwerke von der Grösse Gondosolar zusammen.
Gegner der Atomkraft verweisen auf die fehlende Sicherheit der Reaktoren. Was entgegnen sie?
Die Sicherheit von Kernkraftwerken ist kontinuierlich gestiegen. Derzeit auf dem Markt befindliche Reaktoren der Generation III/III+, von denen weltweit bereits 40 Einheiten in Betrieb sind, haben ein Sicherheitsniveau erreicht, das kaum zu übertreffen ist.
Bleibt die Frage nach den radioaktiven Abfällen?
Natürlich müssen wir uns um den Abfall kümmern, aber die technischen Lösungen sind bereits vorhanden. Jede Quelle hat mit Abfallproblemen zu kämpfen. Bei der Produktion von hochreinem Silizium für Solarzellen fallen zum Beispiel hochgiftige chemische Abfälle an.