Unvorgesehene Effekte Die Forschenden verwendeten ein Molekül namens Tris(tetrahelicenebenzen) oder t[4]HB, das seine Händigkeit ganz einfach wechseln kann. Bilder: Empa
Unvorgesehene Effekte Die Forschenden verwendeten ein Molekül namens Tris(tetrahelicenebenzen) oder t[4]HB, das seine Händigkeit ganz einfach wechseln kann. Bilder: Empa

Kann man eine Fläche mit einer Kachel so belegen, dass sich das Muster nie wiederholt? Für dieses «Einstein-Problem» wurde 2022 eine mathematische Lösung gefunden und die Empa-Forscher entdeckten die chemische Lösung. Das Molekül ordnet sich selbst zu komplexen, sich nicht wiederholenden Mustern an. «Diese aperiodische Oberfläche könnte sogar neuartige physikalische Eigenschaften aufweisen.»

Die Fragestellung hat nichts mit dem Nobelpreisträger Einstein zu tun. Man meint mit dem Ausdruck eine «einzige Form». Chemiker Karl-Heinz Ernst forscht an der Kristallisation von Molekülen an Metalloberflächen. Sein Doktorand Jan Voigt kam mit ungewöhnlichen Ergebnissen eines Experiments auf ihn zu.

«Bei der Kristallisation eines bestimmten Moleküls auf einer Silberoberfläche bildeten sich anstelle der erwarteten regelmässigen Struktur unregelmässige Muster, die sich nie zu wiederholen schienen.»

Bei jeder Wiederholung des Experiments änderten sich die Muster. Was zuerst nach einem experimentellen Fehler aussah, entpuppte sich als ein neues Phänomen. Jetzt suchten die Forscher nach dem Grund für das einzigartige Verhalten der Moleküle.

 

Unvorgesehene Effekte

Die beiden Wissenschaftler interessieren sich für die sogenannte Chiralität, die «Händigkeit», die viele organische Moleküle auszeichnet. Chirale Strukturen sind zwar chemisch identisch aufgebaut, lassen sich aber nicht durch Rotation ineinander überführen – in etwa so, wie unsere rechte und linke Hand.

Diese Eigenschaft ist in der Pharmazie wichtig, da über die Hälfte aller modernen Medikamente chiral sind. «Da Biomoleküle wie Aminosäuren, Zucker und Proteine in unserem Körper alle die gleiche Händigkeit besitzen, müssen auch pharmazeutische Wirkstoffe chiral sein.» Wenn sie bei einem Medikament nicht stimmt, ist es wirkungslos oder sogar schädlich.

Eine Möglichkeiten zur Kontrolle der Händigkeit bei der Synthese organischer Moleküle ist die Kristallisation von chiralen Molekülen. Sie ist günstig, effektiv, aber man versteht sie immer noch nicht vollständig. Die Empa-Forscher verwendeten ein ganz besonderes Molekül, das seine Händigkeit bei Raumtemperatur leicht wechselt. Das passiert bei den meisten chiralen Moleküle praktisch nie.

Dreiecke und Defekte: Durch die Chiralität – der Händigkeit – der Moleküle passen die einzelnenDreieckskacheln nie ganz genau aneinander. Es entstehen Defekte und Versätze, die der Fläche ihre
Aperiodizität verleihen. Bild: Empa
Dreiecke und Defekte: Durch die Chiralität – der Händigkeit – der Moleküle passen die einzelnen Dreieckskacheln nie ganz genau aneinander. Es entstehen Defekte und Versätze, die der Fläche ihre Aperiodizität verleihen. Bild: Empa

«Wir haben erwartet, dass sich die Moleküle nach ihrer Händigkeit im Kristall anordnen», erklärt Karl-Heinz Ernst, «also entweder abwechselnd oder in Gruppen mit derselben Händigkeit. Stattdessen fügten sich die Moleküle scheinbar willkürlich zu unterschiedlich grossen Dreiecken zusammen, die auf der Oberfläche ihrerseits unregelmässige Spiralen bildeten – die nicht-wiederholende oder aperiodische Struktur, die die Forschenden zunächst für einen Fehler hielten.»

 

Von Puzzleteilchen zur Physik

Durch Physik, Mathematik und Ausprobieren mit Puzzleteilen am Computer oder zuhause am Küchentisch fanden sie die Lösung. Die Moleküle bilden keine willkürliche Anordnung, sondern formen Dreiecke, die zwischen zwei und 15 Moleküle pro Seite messen. Bei jeder Versuchsdurchführung dominierte jeweils eine Dreiecksgrösse. Ausserdem waren Dreiecke eine Grösse grösser und eine Grösse kleiner vertreten, aber keine weiteren.

Bild: David Smith, Joseph Samuel Myers, Craig S. Kaplan, Chaim Goodman-Strauss / CC BY 4.0 CC BY
Bild: David Smith, Joseph Samuel Myers, Craig S. Kaplan, Chaim Goodman-Strauss / CC BY 4.0 CC BY

«Unter unseren experimentellen Bedingungen wollen die Moleküle die Silberoberfläche so dicht wie möglich bedecken, weil das energetisch am günstigsten ist», erklärt Ernst. «Aufgrund der Chiralität passen die Dreiecke, die sie bilden, an den Rändern aber nicht exakt zusammen und müssen sich leicht versetzt anordnen.» Damit die Fläche trotzdem so effizient wie möglich ausgefüllt wird, braucht es die kleineren und grösseren Dreiecke. Bei dieser Anordnung entstehen ausserdem an manchen Stellen Defekte – kleine Unstimmigkeiten oder Löcher, die zum Zentrum einer Spirale werden können.

 

Das Rätsel ist gelöst – die Entropie entscheidet

Obwohl Defekte energetisch ungünstig sind, ermöglichen sie eine dichtere Anordnung der Dreiecke, was die verlorene Energie wieder kompensiert. Was bringt uns die Lösung des Rätsels? «Oberflächen mit Defekten auf atomarer oder molekularer Ebene können besondere Eigenschaften aufweisen», erklärt Ernst. «Gerade für eine aperiodische Oberfläche wie unsere wurde vorhergesagt, dass sich die Elektronen darin anders verhalten und daraus eine neue Art von Physik entstehen könnte.»

Um dies zu untersuchen, müsste man allerdings das aperiodische Molekül unter dem Einfluss von Magnetfeldern auf einer anderen Oberfläche untersuchen. Das überlässt Karl-Heinz Ernst, der inzwischen im Ruhestand ist, nun anderen. «Ich habe ein bisschen zu viel Respekt vor der Physik», schmunzelt der Chemiker.